Türkei zwischen Diktatur und Widerstand

  • Von AKI Stuttgart
  • 29. Mai 2016
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thumbnailDer Text „Türkei zwischen Diktatur und Widerstand“ behandelt die aktuelle Situation in Nordkurdistan (Bakur), die Phase des Wahlkampfes 2015, den Erdogan-Merkel Deal und den Widerstand sowie die Selbstverwaltungsstrukturen in Kurdistan. Die Broschüre findet ihr im folgenden in Textform, ihr findet aber auch einen Link um sie als PDF herunterzuladen.

+++ Broschüre als PDF zum herunterladen +++

Seit über einem Jahr ist die Situation in der Türkei und Nordkurdistan (kurdisch: Bakur) für große Teile der Bevölkerung unerträglich. Nicht eine Woche vergeht, ohne dass die türkische Regierung, das Militär oder die Polizei Angriffe, Massaker oder Verhaftungswellen gegen Revolutionäre und Linke durchführt. Erdogan, der amtierende Präsident geht mit der islamisch-konservativen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) brutal gegen linke, revolutionäre, kurdische und demokratische Kräfte vor. Demonstrationsverbote, die Abschaffung der Pressefreiheit, haltlose Verhaftungen, Ausgangssperren und die konstante Bombardierung von ZivilistInnen sollen ein Präsidialsystem mit Erdogan an der Spitze sichern. Jede Form von Protest soll verhindert und politische GegnerInnen sowie die Bevölkerung eingeschüchtert werden.

Besonders hart geht der türkische Staat gegen die kurdische Freiheitsbewegung vor. Er schreckt nicht davor zurück, den IS zu unterstützen, um den Kampf der KurdInnen in Rojava, einer Region im Norden Syriens, zu schwächen. Ein Anschlag der Freiheitsfalken Kurdistan (TAK) im Februar 2016 auf einen Militärkonvoi wird nun von der türkischen Regierung genutzt, um auf einen Einmarsch in Syrien hinzuarbeiten.

Doch obwohl die militärische Offensive gegen die KurdInnen immer aggressiver voranschreitet – wie beispielsweise die Verbrennung von 70 Menschen in Cizre zeigt – und der türkische Staat sogar im ganzen Land Demonstrationsverbote verhängt hat, nimmt der Widerstand zu.

In der anstehenden Phase des Widerstandes geht es um mehr, als politische Freiräume zurück zu erobern und die erkämpfte demokratische Selbstverwaltung zu verteidigen. Es geht darum, dem politischen System in der Türkei den Kampf zu erklären, das sich mehr und mehr hin zu einer Diktatur entwickelt.

Erdogans Weg zur Alleinherrschaft

Bereits vorangegangene Amtsperioden hatte die AKP genutzt, um den Weg für ein Präsidialsystem zu ebenen. So wurden Gesetze geändert und Mechanismen etabliert, die Erdogan Stück für Stück mehr Macht verschafften:

Besetzung der Schlüsselstellen mit AKP´lern: Durch die Platzierung eigener Gouverneure in den Provinzen und die Entmachtung der demokratisch gewählten Provinzversammlungen verfügte die AKP schon vor den Parlamentswahlen 2015 über fast uneingeschränkte Macht. Die direkte Benennung von Gouverneure durch das Innenministerium verhindert die demokratische Mitbestimmung der Bevölkerung und konzentriert zugleich die Macht in den Provinzen auf die AKP.

Die Besetzung der Schlüsselstellen im Staatsapparat mit AKP-Anhängern zeigt die Verflechtung zwischen der AKP und dem Staat. Die Entscheidungsbefugnisse der Gouverneure sind nahezu allumfassend. Sie benötigen weder die Zustimmung der Provinzversammlung bei der Aussetzung von politischen Grundrechten (Erteilung von Einreise- und Demonstrationsverboten), noch bei militärischen Einsätzen. Auch über die Verwendung von finanziellen Mitteln muss keine Rechenschaft abgelegt werden.

Beschneidung der militärischen Macht: Auch der Einfluss des Militärs wurde durch die AKP stark eingeschränkt. Das türkische Militär nahm lange Zeit eine besonders mächtige Rolle ein und verfügte über weitreichende politische und wirtschaftliche Macht in der Türkei. Neben dem Besitz der Oyak-Bank vertritt es auch Interessen des türkischen Kapitals. Im Nationalen Sicherheitsrat (MGK) hatte das Militär durch die Entscheidungshoheit großen Einfluss und bestimmte so als Teil des zwölfköpfigen Gremium in letzter Instanz über wichtige Entscheidungen des Landes.

Dieses Machtinstrument, das noch aus Zeiten der Militärdiktatur stammt, hat die AKP in zwei Schritten untergraben: Während die Armee früher mit sieben Stimmen die Vetomehrheit besaß, beanspruchen dies heute die AKP-Gremienmitglieder für sich, indem das Militär nur noch fünf Posten belegt. In einem zweiten Schritt wurde dem MGK der Status eines entscheidenden Organs abgesprochen, seitdem darf es nur noch Empfehlungen aussprechen. Diese grundlegende Veränderung wurde von größeren Verhaftungswellen begleitet, bekannt auch als Ergenokon-Verfahren.

Durch die Entmachtung des MGK können Erdogan und die AKP Entscheidungen ohne jeglichen Einspruch umzusetzen. Die vorherige Herrschaft der Militärs (MGK) wurde nicht durch die Demokratie ersetzt, sondern wird von der Präsidialdiktatur übernommen. Somit fand keine Entmilitarisierung statt, sondern eine Verschiebung der Macht vom Militär in die Hände von Erdogan.

Zurückdrängen von starken Verbündeten: Eine Alleinherrschaft bringt es zwangsläufig mit sich, dass stärker werdende PartnerInnen zu GegnerInnen werden und verdrängt werden müssen. Dazu zählt auch die Gülen-Bewegung. Fetullah Gülen – ein islamischer Prediger und Anführer der konservativen, nach ihm benannten Bewegung – war ein langjähriger Weggefährte von Erdogan. Durch die wachsende Macht der AKP nahm der Einfluss der Gülen-Bewegung im Staatsapparat zu. Viele hochrangige Posten im Polizeiapparat, dem türkischen Gerichtshof und im Parlament innerhalb der AKP, wurden von seinen Anhängern besetzt. Deshalb geriet auch die Gülen-Bewegung und seine Anhänger ins Visier von Erdogan und der AKP. Unter dem Vorwurf der „Bildung eines Parallelstaates“ wurden sie 2014 mit einer Vielzahl an Verhaftungen überzogen. Die Tageszeitung „Zaman“und der Fernsehsender „Samanyolu“, die sich auf den Prediger beziehen, wurden von Erdogan gestürmt und übernommen.

Der AKP und Erdogan ist es mit diesen drei Schritten gelungen, ihre einflussreichsten Rivalen zu entmachten und damit alle von ihm abweichenden Interessenfraktionen, die im Staatsapparat vertreten waren, zu beseitigen. So schaffte Erdogan die Voraussetzungen, die Verfassung ohne großen Widerstand zu ändern und ein Präsidialsystem zu schaffen. Seine Pläne wurden jedoch zunächst durch die Wahlverluste bei den Parlamentswahlen im Juni durchkreuzt.

Ein Bomben Wahkampf

Neben der Bereinigung des eigenen Staatsapparats, verfolgte die AKP das Ziel sich mit den Neuwahlen die absolute Mehrheit im Parlament zurückzuholen. Dafür nutzte Erdogan die sogenannte „Strategie der Spannung“ – eine Vorgehensweise der Herrschenden um einen Machtverlust zu verhindern. Dabei wird das Land durch Mittel der Gewalt, die vom Staat direkt ausgehen oder durch Geheimdienste angefeuert werden, ins Chaos gestürzt. Anschläge erfolgen mit dem Ziel ein Großteil der Bevölkerung zu verängstigen. Während der Wunsch nach Demokratisierung, Gerechtigkeit und Emanzipation unterdrückt werden soll, steigt der Wunsch nach Sicherheit, Ordnung und Ruhe.

Die Herrschenden können sich nun als Garanten dessen darstellen. Gleichzeitig werden alle demokratischen und revolutionären Kräfte als Terroristen stigmatisiert und in Folge dessen mit Repression überzogen. Auch für die Türkei lassen sich Züge der „Strategie der Spannung“ erkennen:

Das Bombenattentat von einem IS-Anhänger im Juli 2015 auf 300 SozialistInnen in Suruc nutzte Erdogan, um den „Krieg gegen den Terror“ zu verkünden. Doch anstatt gegen den IS vorzugehen, richteten sich seine militärischen Handlungen und Repression vor allem gegen revolutionäre Kräfte und die kurdische Bewegung.

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Zu einem der schwersten Anschläge in der Geschichte der Türke kam es am 10. Oktober in Ankara. Inmitten einer Friedensdemonstration der Demokratischen Partei der Völker (HDP) wurden zwei Bomben gezündet. Dabei wurden 102 Menschen getötet und mehr als 500 verletzt.

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Über 1000 linke AktivistInnen wurden in den kurdischen und türkischen Metropolen festgenommen.

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In wenigen Tagen wurden zeitgleich mehrere hundert Büros der HDP angegriffen und teilweise angezündet.

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Friedenskundgebungen gegen die Politik Erdogans und für ein Ende der Kriegsoffensive in Bakur (Nordkurdistan), wurden von faschistischen Paramilitärs aus dem Spektrum der AKP und der MHP attackiert. Die türkische Polizei schaute nicht nur weg, sondern beteiligte sich an den Angriffen.

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Ein kritischer Artikel zu Erdogans Politik in der bürgerlichen Tageszeitung „Hürriyet“ wurde von einem Mob aus AKP-Anhängern zum Anlass genommen, die Hauptzentrale der Zeitung mit Steinen anzugreifen. Angeführt wurde die ganze Aktion von einem Abgeordneten der AKP selbst.

Die Liste ist länger und belegt, dass sich die Türkei seit geraumer Zeit zu einem Präsidialsystem mit diktatorischen Zügen entwickelt hat. Mit dem Präsidialsystem, an dessen Spitze Erdogan steht, hat dieser die Macht, demokratische Grundrechte zu beschneiden und Gesetze eigenständig zu verändern. Erdogan arbeitet schon seit Jahren auf dieses Ziel hin, indem er die Opposition bekämpft und die Macht immer mehr auf ihn und die AKP konzentriert. Alle Hindernisse, die seiner Alleinherrschaft im Weg stehen, wurden und werden aus dem Weg geräumt.

Ein weiteres Mittel war die Spaltung des Landes in zwei vermeintliche Lager – entweder man ist auf Seiten der AKP oder man ist Terrorist. Zu letzterem zählen alle, die in irgendeiner Form offen an der AKP oder den Entwicklungen Kritik üben. So soll die Solidarisierung der türkischen mit der kurdischen Bevölkerung verhindert und Generalangriffe auf die Opposition gerechtfertigt werden.

Ohne Widerstand, keine Befreiung

Bei den Wahlen im Juni 2015 verlor die AKP nicht nur Stimmen. Die HDP, ein Zusammenschluss verschiedener linker, demokratischer, kurdischer und revolutionärer Strukturen, kam über die 10% Hürde und wäre somit ins Parlament gekommen. Auch entriss sie der AKP die absolute Mehrheit, wodurch diese eine Koalition hätte eingehen müssen um eine Regierung zu bilden. Statt dessen rief sie Neuwahlen aus und erwiderte die Wahlergebnisse mit einer barbarischen Repressionspolitik nach Innen: In über 50 Städten wurden Ausgangssperren verhängt, bei den Ausgangssperren wurden bislang mehrere hunderte Menschen ermordet. Bei Massakern werden Menschen lebendig verbrannt, durch Giftgas getötet und auf den Straßen finden öffentliche Hinrichtungen statt. Der ständige Artilleriebeschuss zerstört Wohnungen und zwang bisher tausende Menschen zu fliehen.

Die Strategie ging auf, durch das Verbreiten von Angst und Schrecken erreichte die AKP bei den Neuwahlen wieder die für sie nötige Mehrheit. Eine Situation auf die auch die Linke in der Türkei eine Antwort finden musste. Der parlamentarische Weg, den die HDP einschlug, zeigt deutlich, dass die AKP nicht abwählbar ist und der türkische Staat weiterhin und noch brutaler gegen Oppositionelle und KurdInnen vorgeht.

Doch trotz allem leisten die Menschen in den türkischen Städten und kurdischen Gebieten Widerstand, so auch in linken Stadtteilen wie Gazi, wo revolutionäre Strukturen freier agieren und der türkische Staat weniger Einfluss hat. Immer wieder kommt es dort zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Trotz Verbote finden immer wieder Demonstrationen statt. Dabei gehen tausende Menschen auf die Straße und werden brutal von der Polizei mit Knüppeln, Gasgranaten und scharfer Munition angegriffen.

Um in der Türkei weiterhin politisch zu agieren, setzen die linken Kräfte nicht nur auf Selbstverteidigung. Mit Bündnissen soll der Widerstand möglichst breite Kreise der Bevölkerung einbinden. So wurde ein Einheitsbündnis „Baris Bloku“ (übersetzt Friedensblock) gegründet, in dem unter anderem die HDP, SozialdemokratInnen, Gewerkschaften und Intellektuelle vertreten sind. Es seht für eine Demokratisierung der Türkei und Bakur ein und spricht sich gegen die Politik der AKP aus.

Mitte März 2016 hat sich zudem ein weiterer Zusammenschluss gebildet, die „Vereinte revolutionäre Bewegung der Völker“ (Halkların Birleşik Devrim Hareketi auf türkisch). Bereits letztes Jahr gab es eine Reihe an Vorgesprächen und Diskussionen zwischen verschiedenen revolutionären Organisationen aus der Türkei und Kurdistan, die zur offiziellen Gründung der Einheit geführt haben. Erklärtes Ziel ist eine Bündelung der Kräfte und der Aufbau einer gemeinsamen Front gegen den türkischen Staatsterror. Der Einheit gehören neben der PKK verschiedene sozialistische und kommunistische Parteien an. (Auflistung siehe Bild unten)

Die „Vereinte revolutionäre Bewegung der Völker“ knüpft an den Erfahrungen des Internationalen Freiheitsbataillons in Rojava (kurdische Region in Nordsyien) an. Dort haben sich verschiedene Organisationen vereinigt um die Revolution zu verteidigen. Sie haben ihre Differenzen also zurückgestellt, um mit mehr Stärke gemeinsam zu agieren. Nun soll dies ausgeweitet werden und mit vereinten Aktionen die bestehenden Selbstverwaltungsstrukturen in Nordkurdistan gestärkt und eine revolutionäre Front in allen Teilen der Türkei und Kurdistans aufgebaut werden.

Widerstand in Kurdistan

Die Ausrufung der demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen in den kurdischen Gebieten und die militärische Offensive der dortigen Bevölkerung ist ein Resultat widerständiger Politik und mitunter ein Produkt der Politik Erdogans. Innerhalb der selbstbestimmten Strukturen sorgen die zivilen Selbstverteidigungseinheiten (YPS) sowie Verteidigungseinheiten eigens und ausschließlich für Frauen (YPS-Jin) für die Sicherheit der dort lebenden Bevölkerung. In den zahlreichen Verteidigungsgräben wird das demokratische Projekt sowohl gegenüber dem türkischen Militär als auch gegenüber dem IS verteidigt. Bakur ist eine der selbstverwalteten kurdischen Regionen (zählt zu Nordkurdistan), die sich vor der Belagerung der türkischen Armee verteidigt.

Nicht zuletzt verfolgt der Kriegseinsatz der türkische Regierung in den befreiten Gebieten das Ziel die Selbstverteidigungsstrukturen restlos zu zerschlagen und den Widerstandswillen der kurdischen Bevölkerung zu brechen. Mit den Angriffen der Armee soll die Kontrolle und der Einfluss des Staates in der Region wiedererlangt und zugleich jegliche kurdische Identität und der Wille nach Selbstbestimmung gebrochen werden. Die Bevölkerung und die bewaffnete Strukturen sollen gespalten werden, damit die kurdische Befreiungsbewegung geschwächt und bekämpft werden kann.

Die demokratische Revolution in Nordkurdistan hängt jedoch eng mit der Entwicklung in der Türkei zusammen. So kann sie nur dann Bestand haben, wenn in der Türkei eine wehrhafte Front gegen das Präsidialsystem und die repressive Politik aufgebaut wird. Die linken Kräfte in der Türkei stehen vor der Herausforderung, trotz der autoritären AKP-Politik, Wege und Formen zu finden, den Widerstand in Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung aufzubauen. Insbesondere müssen sie die Einschüchterungsstrategie der AKP brechen, die bei weiten Teilen der Bevölkerung ihre Wirkung zeigt. Politische Freiräume zu erkämpfen und die Selbstverwaltung zu verteidigen, sind wichtige Schritte in diese Richtung.

Die Türkei und die kurdische Bevölkerung befinden sich heute in einem historischen Moment. KurdInnen wurden seit jeher unterdrückt, unzählige Menschen mussten mit ihrem Leben dafür bezahlen. Entweder gelingt es der AKP nun den Widerstand völlig zu zerschlagen, oder der kurdische Freiheitskampf wird eine entscheidende Wende erfahren, die über die kurdischen Regionen hinaus eine Wirkung zeigen wird.

Der Erdogan Merkel Deal

Die deutsche Regierung pflegt seit Jahren eine enge wirtschaftliche, militärische und politische Zusammenarbeit mit der Türkei. So ist Deutschland der wichtigsten Handelspartner der Türkei: 2014 sind deutsche Exporte im Wert von 32,6 Milliarden Euro in die Türkei geflossen, dazu kommen noch 11,2 Milliarden Euro deutsches Kapital, um die Industrialisierung in der Türkei weiter zu entwickeln. Auch militärisch sind die beiden Nationen über die NATO-Partnerschaft verbandet.

Im Februar erklärte der deutsche Innenminister Thomas de Maiziere in der Sendung Monitor, wir sollten aufhören die Türkei zu kritisieren.

„Natürlich sind in der Türkei Dinge entstanden, die wir zu kritisieren haben. Aber die Türkei, wenn wir von ihr etwas haben wollen, wie, dass sie die illegale Migration unterbinden, dann muss man auch Verständnis dafür haben, dass es dann im Wege des Interessenausgleichs auch Gegenleistungen gibt.“

Die Aussage von de Maiziere ist an Zynismus nicht mehr zu überbieten. Als Gegenleistung für Deutschlands Interesse, sich die Flüchtlinge vom Leib zu halten, werden die KurdInnen der Verfolgung preisgegeben und die Komplizenschaft mit islamistischen Gruppen weiterhin geduldet. Das Schweigen der Bundesregierung zu den Menschenrechtsverletzungen wurde politisch erkauft. Unterdessen geht das Morden genauso wie die wirtschaftlichen Handelsbeziehungen weiter.

Eine weitere Gegenleistung der deutschen Bundesregierung ist die Verfolgung und Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung in Deutschland selbst.

Mit Hilfe des Terrorparagrafen 129b werden seit Jahren kurdische und türkische AktivistInnen mit Verfahren überzogen und verhaftet. Aktuelle Beispiele sind die Verfahren gegen elf inhaftierte AktivistInnen der ATIK (Konföderation der ArbeiterInnen aus der Türkei in Europa), sowie gegen mehrere kurdische Aktivisten. Zudem kommt noch die Hausdurchsuchung in Hannover, dort wurde am 11. Februar 2016 ein Jugendzentrum von SEK-Einheiten durchsucht unter dem Vorwand der „Unterstützung einer Terroristischen Organisation“. Dies soll ein Zeichen gegen all jene sein, die sich mit der kurdischen Befreiungsbewegung und der revolutionären Bewegung in der Türkei solidarisieren.

Parallel zu der Repression durch die deutsche Justiz formieren sich in der BRD und Europa die türkischen Faschisten, um die hier lebende kurdische und türkische Linke einzuschüchtern. Immer wieder wurden öffentliche Versammlungen und Einrichtungen angegriffen. Diese Entwicklung zeigt uns, dass einiges an praktischer Arbeit vor uns liegt und wir die türkischen Faschisten, genauso wie die deutschen Faschisten, überall dort angreifen und zurückdrängen müssen wo wir sie antreffen.

Unsere Aufgabe als InternationalistInnen ist es, außer der Unterstützung der fortschrittlichen Kräfte, die Rolle des deutschen Imperialismus klar darzulegen und sie zu bekämpfen. Der Merkel – Erdogan Deal, stärkt die Hand von Erdogan, im Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung und die türkischen revolutionären Organisationen. Wir müssen uns mit den Betroffenen der Repression solidarisieren und aktiv gegen die reaktionäre türkische Bewegung hier in Deutschland kämpfen, zusammen mit den türkischen und kurdischen GenossInnen. Zudem müssen wir gemeinsam die Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung, mit der PKK und mit den türkischen revolutionären Organisationen in der Türkei aufbauen.

Den Aufbau einer freien Gesellschaft in die eigenen Hände nehmen.
Hoch die internationale Solidarität

Selbstverwaltungsstrukturen in Kurdistan

Bereits seit Jahren wurden in Bakur die lokalen staatlichen Institutionen teils ausgehebelt, indem eigene Strukturen aufgebaut und damit der Machteinfluss der jeweiligen Gouverneure zurückgedrängt wurde. Mit der militärischen Eskalation in der Phase des Wahlkampfes sind die fortschrittlichen Strukturen, die bisher hauptsächlich im Verborgenen agiert haben, an die Öffentlichkeit getreten. In einigen Städten wurde die Autonomie ausgerufen und von der Bevölkerung auch bewaffnet verteidigt.

Ähnliche Selbstverwaltungsstrukturen wurden auch in Rojava (Westkurdistan) aufgebaut. Dort hat die Bevölkerung, nachdem die Truppen Assads die Region verließen, ein eigenes Rätesystem errichtet. Dies wird nun seit über drei Jahren gegen den IS und andere Gruppen verteidigt. Dass die kurdische Bevölkerung in Rojava sich auf diese Weise ihre Rechte genommen hat und erfolgreich verteidigt, stärkt die kurdische Freiheitsbewegung.

Die Bewegung steht auch im Widerspruch zu der von Erdogan gewünschten Veränderung in der Türkei. So sind die Selbstverwaltungsstrukturen ein praktisches Gegenmodell zum Präsidialsystem. Der Einfluss des Staates wird so weit wie möglich zurückgedrängt, die Menschen organisieren sich und gründen ihre eigenen Strukturen, um sich selber zu verwalten, statt sich weiter verwalten zu lassen. Gegen die Angriffe des Staates versucht sich die Bevölkerung mit ihren eigenen Mitteln selbst zu schützen.

Arbeitskreis Internationalismus Stuttgart | April 2016